4 Forschungsstand
Aus Time-Motion-Analysen ist bekannt, dass die größten zeitlichen Anteile des Kampfes mit ca. 65-80% dem Standkampf (Tachi-waza) zuzuordnen sind (Miarka et al., 2016; Monteiro et al., 2019; Sterkowicz-Przybycien et al., 2017). Diese Anteile entsprechen gleichermaßen den Anteilen der traditionellen Standtechniken im Judo (Kodokan Judo Institute, 2017) oder den Wertungsanteilen von Wurftechniken gegenüber Bodentechniken in den Wettkämpfen (Heinisch et al., 2017). Folglich nimmt der Bereich des Tachi-waza eine hohe Priorität innerhalb eines Judokampfes ein. Es besteht zudem der fachliche Konsens, dass Judokämpfe im Tachi-waza in verschiedene Phasen (Abbildung 4.1) eingeteilt werden (Brito et al., 2017; Calmet et al., 2010; Dal Bello et al., 2019) und diese in einer hohen Wechselwirkung zur jeweils nachfolgenden Phase stehen (Soto et al., 2020).
Eine wertungsbringende Angriffsaktion dauert innerhalb eines vierminütigen Kampfes nur wenige Sekunden. Hingegen beansprucht die Entstehung bzw. Erarbeitung von geeigneten Wurfsituationen durch die vorherigen Phasen wie Kontaktaufnahme, Griffkampf und Angriffsvorbereitung deutlich mehr Zeit. Je höher die Meisterschaft bzw. das Leistungsniveau der Athleten*innen ist, desto vielseitiger und unberechenbarer sind die individuellen Wettbewerbstechniken und -taktiken (Levitsky et al., 2020). Dennoch greifen Spitzenathleten*innen in medaillenentscheidenden Wettkampfphasen auf bewährte Verhaltensmuster zurück, wie das Beispiel einer T-Pattern Analyse (TPA) der Olympischen Spiele in Rio deutlich macht (Soriano et al., 2021). Zum einen lassen sich dadurch Rückschlüsse auf die verwendeten strategischen und technisch-taktischen Mittel des/der Athleten*in ziehen (ebd.). Zum anderen sind gruppenspezifische Besonderheiten, wie am Beispiel der klassenspezifischen Unterschiede in den paralympischen Frauendisziplinen, besser zu erkennen (Gutiérrez-Santiago et al., 2020).
Die Studie von (Calmet & Pierantozzi, 2021) zeigt, dass weniger als 10 % der Angriffe von Spitzenathleten*innen miteinander verbundene Angriffstechniken sind und ca. 61% der Angriffe in Richtung der bevorzugten Kumi-kata erfolgen. Folgerichtig nehmen die Angriffsmöglichkeiten in ihrer Komplexität nicht weiter zu, sondern vielmehr scheint ein vielfältiges Spektrum an verschiedenen Verhaltensmustern Erfolg versprechend zu sein. Aus den Analysen von (Mayo et al., 2019) geht hervor, dass Erfolg versprechende Angriffsaktionen von Tori[1]durch eine aktive Vorwärtsbewegung von Uke[2] begünstigt werden. Diese Erkenntnis ist angesichts des Grundprinzips Aktion-Reaktion im Judo nicht revolutionär, beschreibt aber eine Grundvoraussetzung für das Werfen von Eindrehtechniken innerhalb eines Handlungsmuster. Aus einer weiteren TPA zu den Weltmeisterschaften 2017 ist bekannt, dass meist wertungsbringende Angriffsaktion (≥Waza-ari) mittels Bein- oder Handwurftechniken aus einer statischen Position erzielt werden (Gutiérrez-Santiago et al., 2019). Es sind demzufolge bestimmte Faktoren notwendig, um ein Handlungsmuster in seiner Effektivität zu begünstigen.
Eine weitere wichtige Grundvoraussetzung ist die Position sowie die Art der Kumi-kata (Adams, 1990). Der Ärmel-Revers-Griff zählt im Wettkampf zu der am häufigsten verwendeten Griffvariante. Diese Dominanz liegt aufgrund mangelnder Alternativen ohne Bestrafungsrisiko nahe (International Judo Federation, 2018). Zusätzlich begünstigen bestimmte gegnerische Griffvarianten statistisch signifikant den wertungsbringenden Angriff von Tori (Gutiérrez-Santiago et al., 2019). Hierzu zählen Griffe von Uke mit einer Hand am Rücken, einer Hand am Revers, Ärmel-Ärmel oder Revers-Ärmel. Insbesondere im Männerbereich spielen dadurch Griffvarianten und eine wechselnde Kumi-kata eine übergeordnete Rolle (Dal Bello et al., 2019) und unterscheiden sich wiederum zwischen den Gewichtsklassengruppen (Ito et al., 2021; Soto et al., 2020). Daher werden nur 5-7% der Angriffe im Spitzenbereich mit einer gemischten Kumi-kata, wie z.B. Doppel-Ärmel oder Doppel-Revers, ausgeführt (Calmet & Pierantozzi, 2021). Darüber hinaus führen bspw. umklammernde Grifftechniken zu signifikant höheren Punktwertungen als Wurftechniken ohne einen umklammernden Griff (Ito et al., 2019). Die ständigen Griffwechsel zwischen den zahlreichen Griffvarianten stellen im Spitzenbereich ein Potential für strategische und technisch-taktische Empfehlungen dar. Wie diese Grifftechniken zu einem effektiven Handlungsmuster beitragen, kann die aktuelle Studienlage jedoch nicht vollständig beantworten. Das Schließen der Forschungslücke könnte ein erster Ansatz sein, effektive Handlungsmuster gezielt in das technisch-taktische Training unter situativen Bedingungen zu implementieren (z.B. als Videofeedback) und gemessen am internationalem Leistungsniveau adäquate Lösungen anzubieten.
[1] werfende oder angreifende Person [2] geworfene oder angegriffene Person
Quellen