5 Forschungsmethodik
5.1 Studiendesign
Für die Untersuchung ist ein exploratives, nomothetisches, nachverfolgendes und multidimensionales Beobachtungsdesign verwendet wurden (Sánchez-Algarra & Anguera, 2013). Für die Entscheidungsfindung im Beobachtungsprozess (Tagging) unterliegen die dominanten Kriterien (Merkmale) festen Regeln und Leitlinien (ebd.). Studien mit solchen Beobachtungsmethoden können als Mixed-Methods-Studien betrachtet werden, um qualitative Daten entsprechend zu quantifizieren (Anguera et al., 2018). Die Wahl des Studiendesignes begründet sich aus der Anforderung eine qualitative Wettkampfanalyse von Verhaltensweisen unter Berücksichtigung von quantitativen Analysemethoden durchzuführen.
5.2 Stichprobe
Das videogestützte Datenmaterial sowie allgemeine Wettkampfstatistiken wurden von den Webseiten der International Judo Föderation (IJF) und der Europäischen Judo Union (EJU) bezogen. Es handelt sich hierbei um Turniere der IJF World Tour mit internationaler Beteiligung auf Weltspitzenniveau (1x Grand Prix, 2x Grand Slam, 1x Master und 1x Europameisterschaft). Gemäß der ethischen Prinzipien der American Psychological Association (Association American Psychological, 2017, S. 11) war keine informierte Zustimmung der Teilnehmer für die Datenerfassung von Bild und Ton erforderlich, da die Beobachtungen für diese Studie in einer natürlichen Umgebung an einem öffentlichen Ort aufgenommen worden. Darüber hinaus führten die Aufzeichnungen zu keiner persönlichen Identifizierung oder Schädigung der Teilnehmer.
Es wurden wie bereits begründet ausschließlich Kampfbegegnungen aus den sieben männlichen Gewichtklassen in die Stichprobe eingeschlossen (-60 kg, -66 kg, -73 kg, -81kg, -90 kg, -100 kg und +100 kg). Ausgehend von dem Wettkampfkalender 2022 wurden ifünf Wettbewerbe mit allen Wertungssequenzen analysiert. Für die Selektion von wertungsbringenden Ereignissen wurden spezifische Einschluss- und Ausschlusskriterien berücksichtigt (Tabelle 5.1), um die Qualität der Daten durch unklare Faktoren nicht zu verfälschen.
Einschlusskriterium | Ausschlusskriterium |
---|---|
|
|
5.3 Untersuchungsablauf
Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden die Arbeitsprozesse in vier aufeinander aufbauende Arbeitspakete gegliedert. Die verwendeten Untersuchungsverfahren mit den adaptiven Softwarelösungen wurden in den verwendeten Mixed Methods Approach integriert und sollten den Workflow gewährleisten. Im Folgenden sind die Arbeitspakete und geplanten Inhalte in einem Verlaufsplan dargestellt (Abbildung 5.1).
5.3.1 Arbeitspaket 1 (AP1)
Im ersten Arbeitspaket erfolgte die Datenakquise aus ausgewählten IJF-Wettkämpfen des Jahres 2022 im Männerbereich. Hierzu wurde eine Selektion der Kampfbegegnungen mit wertungsbringenden Ereignisse durch die definierten Ein- und Ausschlusskriterien vorgesehen (Tabelle 5.1). Im Anschluss wurden die selektierten Kampfbegegnungen von der IJF/EJU-Plattform über Addon-basierte Browserfunktionen heruntergeladen, beschriftet und zwischengespeichert. Das heruntergeladene Videomaterial wurde in einem zweiten Arbeitsschritt mit Hilfe von HDVideoPlus (Version 3.1.0, IAT) unkomprimiert geschnitten. Die Sequenzlänge eines wertungsbringenden Ereignisses wurde durch die Trennkommandos des Kampfrichters definiert („Mate” – „Hajime” – „Mate”). Des Weiteren wurden allgemeine Kampfstatistiken und Kurzbeschreibungen (u. a. Kampfdauer, Wertungszeitpunkt, Länderbeteiligung, Judoka, Kampfergebnis etc.) erstellt, um die codierten Szenen für das zweite Arbeitspaket vorzubereiten.
5.3.2 Arbeitspaket 2 (AP2)
Das zweite Arbeitspaket beinhaltet die Konstruktion eines Beobachtungsinstrumentes mit einem sportartspezifischen Kategoriensystem und der Codierung des Verhaltens auf Grundlage von bereits evaluierten Kriterien und existierenden Kategoriensystemen vergangener Untersuchungen (Gutiérrez-Santiago et al., 2019; Heinisch et al., 2010; Oswald et al., 2012; Soriano et al., 2021; Stankovic et al., 2019). Die Bewertung der Merkmale und Erfassung der temporalen Daten (T-Daten) erfolgt mit dem browserbasierten Observationstool LINCE Plus (Version 1.3.2, Soto-Fernandez et al., 2021). Für eine systematische Datenerfassung wurden im Vorfeld einheitliche “Tagging Rules” in Form eines Cheat Sheet zusammengestellt (Abbildung 5.2).
Zusätzlich kann für das merkmalsbasierte Kategoriensystem eine Prüfung der Interrater-Reliabilität von mehreren unabhängigen Experten durchgeführt werden. LINCE Plus stellte hierzu mit dem Modul Observes die Berechnung von Kappa-Indizes (Algorithmus von Fleiss, 1971) und Kontingenztafeln bereit. Insbesondere die Reliabilitätsprüfung von bewegungsanalytischen Kategorien, wie Tai-sabaki, Mattenposition, Bewegungsrichtung und KUMI-KATA konnten aus der Literatur nicht abgeleitet werden. Diese Kategorien helfen in der Beantwortung der Fragestellung, sollten aber mindestens eine moderate bis substantielle Übereinstimmung aufweisen (Kappa Statistik: > 0.7 nach Landis & Koch, 1977).
Für die Wettkampfanalyse der IJF-Serie 2022 wurden die wertungsbringenden Angriffsaktionen mit 0,1 bis 0,5-facher Videogeschwindigkeit zeitlich chronologisch und sequenztiell nach den Ereignissen getaggt. Dieser Arbeitsschritt wiederholte sich für jedes der ausgewählten IJF-Turniere. Nach Abschluss des ersten und zweiten Halbjahres erfolgte jeweils eine Einschätzung der aktuellen Datenlage, um die zeitlich aufwendige Datenerfassung adäquat zu steuern. Abschließend wurden die T-Daten in Excel für die allgemeine Wettkampfstatistiken und Mustererkennung aufbereitet.
5.3.3 Arbeitspaket 3 (AP3)
Für die objektive Bewertung von effektiven Handlungsmustern wird auf Grundlage des Detektionsalgorithmus der T-Pattern Analyse (TPA, Magnusson, 2020) die Software THEME 6 (Version Education, Magnusson, 2016) verwendet. Die exportierten T-Daten aus LINCE Plus können nach der Replikation des Kategoriensystems in THEME 6 übertragen werden. Danach findet die Ermittlung und grafische Darstellung von Event-Typen mit den dazugehörigen Lage- und Streuungsparameter statt (explorative Datenanalyse). In diesem Arbeitsschritt gilt es Kodierungsfehler zu eliminieren bzw. zu korrigieren. Für die Detektion und anschließende Suche von Verhaltensmustern ist ein adäquates Setting der kritischen Intervalle vorzunehmen (u. a. Signifikanzlevel, Ereignismindestanzahl, Intervalltyp, Baseline-Wahrscheinlichkeitstyp, etc.). In Abhängigkeit der detektierten T-Pattern und Fragestellungen können sich die Settings der kritischen Intervalle unterscheiden. Zur besseren Einordnung von signifikanten Testergebnisse wird der Detektionsalgorithmus für randomisierte Versionen der T-Daten erneut durchgeführt (Monte-Carlo-Simulation), um zu prüfen ob die Menge der erkannten Muster signifikant von einer solchen zufälligen Erwartung abweichen (Magnusson, 2016). Abschließend werden die Verteilungen der Muster in verschiedenen Charts und deskriptiven Tabellen zusammengefasst (Abbildung 5.3).
5.3.4 Arbeitspaket 4 (AP4)
Schwerpunktmäßig wurden im vierten Arbeitspaket der Übertrag von wissenschaftlich aufbereitetem Datenmaterial durch praxisadäquate Medien für die Spitzentrainer angefertigt. Hierzu wurden die Berechnungen und Visualisierungen unter Verwendung von R (R Core Team, 2022) in RStudio (RStudio Team, 2022) angefertigt. Mit Unterstützung der Pakete tidyverse (Wickham et al., 2019), plotly (Sievert, 2020) und ggstatsplot (Patil, 2021) wurden die Wettkampfdaten inhaltlich für die Beantwortung der Fragestellungen bearbeitet. Der praxisrelevante Bezug zu den effektiven Verhaltensmustern wurde für die Traineraus- und Trainerfortbildung mit Hilfe von Handlungsketten visualisiert.
5.4 T-Pattern Analyse nach Magnusson (TPA)
Im Vergleich zu anderen Algorithmen (u. a. WINEPI, MINEPI oder RTP) der Familie der temporalen Sequenzen berücksichtigt der Algorithmus von Magnusson (1981) sowohl die Reihenfolge als auch die variable Zeit zwischen den Ereignissen, ohne dass die Zeit in irgendeiner Weise neu dargestellt werden muss (Qazi et al., 2019, S. 9574). Aus diesem Grund hat sich auch die TPA als Methode zur Beurteilung von Verhaltensdaten in den Spiel- und Zweikampfsportarten bewährt (Borrie et al., 2002; Gutiérrez-Santiago et al., 2020; Jonsson et al., 2010). Der folgende in THEME6 implementierte Erkennungsalgorithmus beschreibt den verwendeten hierarchischen und multiordinalen T-Pattern-Typ (Magnusson, 2016, S. 16):
Q = X1 [d1, d2]1 X2 [d1, d2]2 …Xi [d1, d2]i Xi+1 …Xm-1 [d1, d2]m−1 Xm (Q = T-pattern; m = Länge/Dauer)
Dieser binäre Suchalgorithmus beruht darauf, dass in den T-Daten mindestens ein Paar von Reihen gefunden wird, die durch ein kritisches Intervall (CI: Q → QLeft [d1, d2] QRight) miteinander verbunden sind (ebd.). Zu Beginn müssen die T-Daten der wertungsbringenden Angriffsaktionen reorganisiert werden. Hierbei helfen Event-Frequency-Charts oder Event-Type-Plots (Abbildung 5.4), um das anschließenden Setting für die Suche nach Mustern einzugrenzen. Für die Einstellungsoptionen der T-Pattern Detektion wird auf das THEME6 Handbuch (Magnusson, 2016) verwiesen. Hier werden die kritischen Intervall-Typen, die Baseline der Wahrscheinlichkeitstypen, das Signifikanzlevel, das Signifikanzlevel von T-Burst (sehr kurze Muster, die kleiner als der Durchschnitt sind), Lumping-Faktoren und ggf. der Ausschluss von Event-Typen genauer beschrieben.
Magnusson (2020) weist aber bei der Detektion darauf hin, dass bei zahlreichen Berechnungen auch viele Signifikanztests positiv sein können, selbst wenn die Daten zufällig sind. Daher ist es hilfreich die zwei in THEME 6 integrierten Methoden (T-shuffling & T-rotation) zur Randomisierung zu nutzen, um den Unterschied zwischen den erkannten Mustern in den zufälligen und den realen Daten zu prüfen (Magnusson, 2020, S. 3–4). Nach Abschluss der Berechnungen erfolgt die Selektion und Analyse der detektierten Muster. Hierfür stehen wiederum verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, wie die Selektion nach quantitativen (Intervall- und Strukturselektion) und weiterführend qualitative Schwerpunkte. Dadurch können detektierte Handlungsmuster deskriptiv und verhaltensbezogen dargestellt werden.
Quellen