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Warum benötige ich für das Krafttraining eine sportartspezifische Anforderungsanalyse?

Autor: Frank Lehmann
Stand: 2019
Hintergrund

Die vielschichtige Wirksamkeit von Krafttrainings konnte in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen werden. Offene Fragen bestehen nach wie vor in der konkreten wirksamen Ausrichtung auf die leistungssportlich relevante Wettkampfleistung. Die Folge sind unterschiedliche Ansätze und Sichtweisen (Spannbreite von Aversion gegenüber Maximalkrafttraining bis Maximalkrafttraining als „Allheilmittel“ für die Leistungsentwicklung) bei der sportartspezifischen Gestaltung oder Erneuerung des Krafttrainings.

Dabei wird eine tiefgründige sportartspezifische Anforderungsanalyse nur selten als Ausgangspunkt gewählt. Ziel und Anliegen einer sportartspezifischen Anforderungsanalyse werden sehr gut bei Fleck & Kraemer 1, 2 als „Needs Analysis“ herausgearbeitet. Die Kernaussagen eines solchen Ansatzes sollen nachfolgend herausgestellt werden.


Antwort

Als Ausgangspunkt für die Anforderungsanalyse in der jeweiligen Sportart dient neben der direkten Erfassung der Kraftwirkungen I die biomechanische Analyse der Wettkampfbewegung. Diese erfolgt in der Regel als dreidimensionale Videobildanalyse in Verbindung mit einer synchronen Erfassung wirkender Kräfte (z. B. Druckmesssohlen, Kraftmessplatten). In den sportartspezifisch relevanten Bewegungsphasen (z. B. antriebswirksame und -lose Phasen, Vorbeschleunigungs- und Hauptbeschleunigungsphasen etc.) werden die Verläufe wesentlicher biomechanischer Parameter (z. B. KSP-Wege und -geschwindigkeiten, Wege und Geschwindigkeiten von Sportgeräten, Winkel und Winkelgeschwindigkeiten relevanter Körperbewegungen, Gelenkmomente) erfasst. Die Ergebnisse einer derartigen kinematischen Bewegungsanalyse werden ausgewertet und grafisch aufbereitet (Abb. 1) und bilden die Grundlage für die Beantwortung nachfolgender Fragen.


Abb. 1: Kinematische Bewegungsanalyse im Eisschnelllauf  3

1. Welche Muskelgruppen sollten trainiert werden? 

Die biomechanische (kinematisch und dynamisch, inklusive inverse Dynamik) Analyse gibt zunächst Aufschluss darüber, welche Muskeln/Muskelgruppen die äußeren Kraftwirkungen in den sportartspezifischen, relevanten Bewegungsphasen verursachen. Im Idealfall können diese kinematischen Analysen durch EMG-Analysen (Erfassung der myoelektrischen Aktivitäten) unter Laborbedingungen ergänzt werden. Dabei sollte zunächst ein sportartspezifischer Leistungsbezug hergestellt werden: Kennzeichnung signifikanter Zusammenhänge von Gelenkbewegungen, von KSP-Geschwindigkeits- und Wegänderungen sowie Parametern der räumlich-zeitlichen Struktur zur sportlichen Leistung bzw. zu Teilleistungen. Daraus leiten sich die Trainings- und Testübungen ab, die in den Mittelpunkt zu stellen sind. Bei vielen lokomotorischen Sportarten (Laufen, Bob-/Skeletonstart, Springen) sind z. B. die Hüftstrecker im Vergleich zu den Kniestreckern dominant für sportliche Spitzenleistungen, sodass diese akzentuiert trainiert werden sollten. Ebenso erfolgen Abdruckphasen teilweise seitlich nach hinten (z. B. Skilanglauf, Eisschnelllauf). Das Training der damit verbundenen Hüftabduktoren wird im Training teilweise noch nicht ausreichend berücksichtigt.


2. In welchen Gelenkwinkelbereichen sollte trainiert werden? 

Da die Grundsätze spezifischer Adaptation auch für den Gelenkwinkelbereich zutreffen 4, gilt es den wirksamen Arbeitsbereich zu erfassen (ROM – Range of Motion). Auch hier ist der Abgleich von durchgeführten Trainingsübungen mit den Anforderungen, die sich aus der Wettkampfbewegung [im Idealfall bei Topleistungen] ergeben, sinnvoll. So kann man bei der Auswahl seiner Trainingsübungen mit Übungsketten arbeiten, die mit zunehmender Nähe zur Wettkampfübung spezifischer werden und die tatsächliche ROM berücksichtigen. II


3. Welche Energiebereitstellungssysteme sollten trainiert werden? 

In den meisten kraft- und schnelligkeitsbetonten Sportarten muss man von einer maximal möglichen Energiebereitstellung durch Nutzung des anaerob-laktaziden Stoffwechsels ausgehen. In einigen klassischen Sprintdisziplinen gibt es fließende Übergänge vom anaerob-alaktaziden zum anaerob-laktaziden (leichtathletischer Sprint), während in klassischen ausdauerbetonten Sportarten der aerobe Stoffwechsel dominiert. In vielen Sportarten ändern sich auch die Stoffwechselbedingungen für die Realisierung von Kraftleistungen im Verlauf des Wettkampfs (Spielsport- und Zweikampfsportarten, Turnen, Eiskunstlauf) aufgrund der Wettkampfdauer. In Abhängigkeit davon geht es darum, neben den maximal möglichen Krafteinsätzen prozentual abgestufte Krafteinsätze unter Berücksichtigung der Dauer der Anwendung ausreichend oft zu wiederholen und damit die sportspezifisch adäquaten Bedingungen bei der Gestaltung des Krafttrainings zu simulieren.


4. Welche muskulären Arbeitsweisen sollten bevorzugt trainiert werden? 

Dabei gilt es herauszustellen, welche Muskelaktionen in den sportartspezifisch relevanten Bewegungsphasen dominieren. In der Regel treten bei sportlichen Bewegungen alle muskulären Arbeitsweisen (isometrisch, exzentrisch, konzentrisch) in verschiedenen Ausprägungen auf. In vielen Sportarten wird die konzentrische und die exzentrische Arbeitsweise als reaktiver Vorgang unmittelbar zeitlich verbunden. In diesem Zusammenhang wird von einem Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus (DVZ) gesprochen. Die reaktive Arbeitsweise tritt vor allem in den Bremsphasen bei vielen zyklischen Lokomotionsbewegungen (die mit negativer horizontaler Kraftwirkung nachweisbar sind) oder bei Ausholbewegungen (Überkopfsportarten, Sportspiele etc.) auf. Über den DVZ entsteht eine Kraftpotenzierung durch Vordehnung bzw. Erzeugung einer Vorspannung in den späteren Hauptarbeitsmuskeln. Auch diesen Aspekt gilt es im Training zu berücksichtigen und entsprechend der dominanten Muskelarbeitsweise Akzente zu setzen (z. B. exzentrisches Krafttraining).


5. Was sind primäre Verletzungsgefahren und individuelle Risiken? 

Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich indirekt aus der biomechanischen Analyse und muss unter Berücksichtigung grundlegender Beanspruchungsmechanismen des tendomuskulären und Skelettsystems gesehen werden. Sind die in der Bewegung realisierten ROM vor allem unter Berücksichtigung reaktiver Bewegungen und hoher Bewegungsgeschwindigkeiten im physiologischen Grenzbereich oder überschreiten diesen gar? Beispiele: Veränderung des ROM im Schultergelenk für Topleistungen in den „Überkopfsportarten“ 5, hohe Beanspruchung der Kniegelenke aufgrund physiologischer anormaler Drehbewegungen im Kniegelenk beim alpinen Skilauf 6 oder physiologisch anormale Belastung des Lumbosakral- und des Hüftgelenks beim Skeletonstart in gebeugter Haltung. Die sportartspezifisch konkrete Kennzeichnung zieht die Erarbeitung und Durchführung von präventiven oder zumindest kompensierenden Maßnahmen im Krafttraining und darüber hinaus nach sich.


Handlungsempfehlungen

Erstelle in Zusammenarbeit mit Trainingswissenschaftlern kinematische und dynamische Analysen der Ziel-/Wettkampfbewegung. Verdeutliche dabei die Unterschiede zwischen Spitzen- und Anschlussleistungen. Erstelle daraus ein sportart- bzw. disziplinspezifisches Anforderungsprofil.

Sorge für die kontinuierliche und regelmäßige Durchführung von Bewegungsanalysen mit deinen Sportlern. Leite daraus aktuelle Defizite für die Gestaltung des Trainings ab.

Leite aus dem Anforderungsprofil die relevanten Trainingsübungen für die Gestaltung des Krafttrainings ab und berücksichtige dabei die einbezogenen Muskelgruppen und Bewegungen, die einbezogenen Gelenkwinkelbereiche und die dominanten muskulären Arbeitsweisen.

Plane und gestalte unter Berücksichtigung der sich ergebenen Anforderungen an die Energiebereitstellungssysteme dein Krafttraining.

Überprüfe ein langjährig gleich durchgeführtes Krafttraining, ob es noch den sich evtl. weiterentwickelten Anforderungen in deiner Sportart entspricht und sorge ggf. für die Erneuerung oder Modifizierung des trainingsmethodischen Vorgehens hinsichtlich genannter Kriterien.

Literatur
  1. Kraemer, W. J. (1983). Exercise prescription in weight training: A needs analysis. National Strength and Conditioning Journal, 5 (1), 64-65.
  2. Fleck, S. J. & Kraemer, W. J. (2014). Designing resistance training programs. Champaign: Human Kinetics.
  3. van der Kruk, E., Schwab, A. L., van der Helm, F. C. T. & Veeger, H. E. J. (2018). Getting in shape: Reconstructing three-dimensional long-track speed skating kinematics by comparing several body pose reconstruction techniques. Journal of Biomechanics, 69, 103-112.
  4. Trebs, A. A., Brandenburg, J. P. & Pitney, W. A. (2010). An electromyography analysis of 3 muscles surrounding the shoulder joint during the performance of a chest press exercise at several angles. The Journal of strength and Conditioning Research, 24 (7), 1925-1930.
  5. Manske, R., Wilk, K., Davies, G., Ellenbecker, T. & Reinold, M. (2013). Glenohumeral Motion Deficits: Friend or Foe? The International Journal of Sports Physical Therapy, 8 (5), 537-553.
  6. Auswertestelle für Skiunfälle (Hrsg.) (2018). Unfälle und Verletzungen im alpinen Skisport. Zahlen und Trends 2016/2017. Zugriff am 14.5.2019 unter https://www.deutscherskiverband.de/datei.php?system_id=1359717
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