Kann Taktik durch Trainer*innen als Faktor einer Talentdiagnostik wirklich erfasst werden?
Taktik ist ein wesentlicher Baustein des sportlichen Handelns und in vielen Spiel- und Wettkampfsituationen oftmals sogar einer der entscheidenden Faktoren. Taktisches Handeln und Verständnis wird in nahezu jeder Wettkampfsportart in unterschiedlichen Formen und Ausprägungsgraden von Sportler*innen sowohl in Mannschafts-, Zweikampf-, als auch Individualsportarten erwartet. Die Unterschiede zwischen Strategie als längerfristig angelegter Handlungsplan und Taktik, die auf situativ, problemlösungsorientierte Prozesse abzielt, werden besonders im Kontext von Talentsichtung bedeutsam.
In Mannschaftssportarten wie Basketball oder Fußball, hängt die sportliche Leistung unter anderem davon ab, wie Spieler*innen in verschiedenen Situationen Entscheidungen beim Passen zu ihren Mitspieler*innen im Spielverlauf treffen. In Zweikampfsportarten wie Judo oder Ringen müssen die Kämpfer sowohl Angriffs- als auch Verteidigungstaktik beherrschen und situativ Entscheidungen abhängig vom Gegnerverhalten treffen. Individualtaktik lässt sich in zwei Kompetenzbereiche einteilen: Athlet*innen müssen vor allem in Sportarten wie Badminton, Handball, Basketball oder Tischtennis in der Lage sein für die verschiedensten Spielsituationen variable Lösungen zu entwickeln. Ein begrenztes Repertoire an Lösungsansätzen macht jede Sportler*in für Gegner berechenbar. Darauf aufbauend sollten Athlet*innen die Fähigkeit besitzen, aus ihren Handlungskompetenzen Lösungen auszuwählen, die in der jeweiligen Wettkampfsituation zu dem von ihnen gewünschten Erfolg führt. Dieser Bereich entwickelt sich vor allem durch Erfahrung, sowie sportspezifische Kenntnisse. Besonders erwähnenswert ist das Zusammenspiel der verschiedenen Leistungsfaktoren. So hat die Persönlichkeit und Psyche des Sportlers einen großen Einfluss darauf, ob er eher risikoreichere oder risikoarmere taktische Entscheidungen im Wettkampf trifft. Auch die Ausprägung seines Selbstbewusstseins im Zusammenspiel mit sportartspezifischer Technik und konditionellen Fähigkeiten spielt bei situativen Entscheidungen im Wettkampf eine große Rolle.
Für die Talentsichtung und Beurteilung des Potenzials der Sportler*innen sind folglich vor allem Möglichkeiten der Diagnostik von individuellem sowie situativem Handeln und Entscheidungen treffen relevant. Um taktisches Handeln und Verständnis von Sportler*innen zu diagnostizieren, gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Tools, die von einfachen digitalen Technologien (z.B. Videoanalyse, GPS-Tracking) bis hin zu hochentwickeltem Virtual Reality Videomaterial reichen. Um das ganze jedoch zu vereinfachen und für die Sportpraxis besonders im Nachwuchsleistungssport zugänglich zu machen, bieten sich Methoden wie Wettkampfbeobachtungen und Spieltestsituationen an.
Wettkampfbeobachtungen können mit verschiedenen Ansätzen und Zielstellungen durchgeführt werden. Die Möglichkeiten reichen von freien, komplett subjektiven Eindrücken oder Experteneinschätzungen bis hin zu systematischen und geplanten Beobachtungen des Wettkampfverlaufs eines oder mehrerer Athlet*innen. In den Mannschaftssportarten wie Basketball, Handball, Volleyball oder Fußball kann die Anzahl, aber auch die Auswirkungen der auftretenden Spielaktionen (z.B. erfolgreiche Zweikämpfe, Torschüsse (Fußball); Korbwürfe, Pässe (Basketball)) erfasst und anschließend für die Beurteilung des taktischen Handelns herangezogen werden. Durch Videoaufzeichnungen und der damit verbundenen Möglichkeit zur Wiederholung von Spielszenen oder der Einnahme einer anderen Perspektive wird der Prozess der Spielbeobachtung einfacher für die Expert*innen und vor allem steigt die Qualität der Aussagen.
Die Wettkampfbeobachtungen und Einschätzung des taktischen Handelns der Athlet*innen können auch auf Basis des Verständnisses und der Intuition der Expert*innen und ihrer Expertise erfolgen. Oftmals haben erfahrene Trainer*innen eigene Einschätzungsskalen entwickelt, die sie anwenden, um die Beobachtungen einzuordnen und Vergleiche zwischen Sportler*innen ziehen zu können. Diese sind nicht zwangsläufig wissenschaftlich evaluiert, bieten dennoch eine hohe Aussagekraft.
Diagnostik im tatsächlichen Wettkampfgeschehen hat den Vorteil, dass es sich um tatsächliche und realistische Wettkampfsituationen, die für Sportler*innen nur begrenzt vorhersehbar sind, handelt. Um dies jedoch für die Talentsichtung zu verwenden, müssen Wettkampfbeobachtungen und diagnostische Methoden über einen längeren Zeitraum mit verschiedenen Gegnern und unter vielfältigen Bedingungen durchgeführt werden. Dem ganzheitlichen Ansatz gerecht werden und ein rundes Bild der Spieler*innen zu erhalten, ist erst durch kontinuierliche Erfassung der Wettkampfleistung möglich. Auch hier ist wieder nicht zu vergessen, dass die Bewertung von taktischem Verständnis in großem Maße abhängig ist von weiteren Faktoren wie den technischen Fertigkeiten oder mentalen Komponenten.
Unabhängig von einem tatsächlichen Wettkampf werden in Spieltestsituationen, auch Small-Sided Games genannt, bestimmte Spielaktionen und -situationen durch beispielsweise ein vorheriges Briefing, Eingrenzung von Spielmöglichkeiten oder viele weitere Varianten geschaffen, um einzelne Aspekte taktischen Handelns isoliert zu erfassen und anschließend bewerten zu können. Somit kann das Entscheidungsverhalten von Sportler*innen isoliert außerhalb des Wettkampfgeschehens erfasst werden. Beispielsweise im Rugby kann das taktische Handeln in Kontaktsituationen wie Tackling oder in Verteidigungssituationen isoliert werden, in dem man den Spieler*innen vorab Rollen zuweist, die sie über einen längeren Zeitraum einnehmen.
Die Bewertung des taktischen Handelns dar nicht isoliert erfolgen, sondern muss stets im Kontext weiterer Leistungsvoraussetzungen und Einflussfaktoren betrachtet werden.
Wichtig sind eine regelmäßige und systematische Herangehensweise der Datenerfassung, um ein Gesamtbild über die taktischen Fähigkeiten eines Athleten und seine Entscheidungsfähigkeit im Wettkampf zu erhalten.
Durch Videoaufnahmen und Analysen anhand von vorab festgelegten Bewertungskriterien für das taktische Handeln der Sportler*innen, kann eine höhere Nachvollziehbarkeit und Transparenz geschaffen werden.