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Verwendung einer Polarkoordinatenanalyse – am Beispiel Judo

Autor: Erik Hobein, Claudius Nowoisky & Stefan Leonhardt
Stand: 09/2022

Die Polarkoordinatenanalyse (PKA) ermöglicht im Sport eine quantitative und qualitative Analyse der Beziehung ausgewählter technisch-taktischer Handlungen und Verhaltensweisen. Die Handlungen und Verhaltensweisen werden dazu in vorausgehenden Analysen definiert, zeitlich erfasst und codiert. Die Darstellung der jeweiligen Beziehung der Verhaltensweisen erfolgt dann mit Hilfe des Polarkoordinatensystems. Im Zentrum der PKA steht dabei eine beliebig definierte Verhaltensweise. Ein Vektor, der in einem von vier Quadranten verläuft, gibt dann die entsprechende Beziehung zwischen der zentralen Verhaltensweise und den möglicherweise dazu bedingenden Verhaltensweisen an. Die Länge des Vektors stellt dabei die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs dar und der Quadrant den positiven oder negativen Einfluss auf diese Beziehung.


Studie:

Zur Studie
https://sport-iat.de/iat-hub/judo/projekt
Take-aways

Datenanalyse in der Mixed-Methods-Forschung

Analyse von zeitlichen Verhaltensbeziehungen

Möglichkeit große Datensätze in reduzierter Form darzustellen

Eignet sich zur technisch-taktischen Analyse in den Spiel- und Zweikampfsportarten

Verarbeitung von sequenziellen Analysedaten in einem Polarkoordinatensystem

Zusammenfassung

Die PKA bietet die Möglichkeit große Datenmengen übersichtlich darzustellen und wird dementsprechend in vielen wissenschaftlichen Disziplinen genutzt. Auch vermehrt im Sport kommt die PKA zum Einsatz (Perea, Castellano, Alday & Hernández-Mendo, 2012). Diese wird beispielweise im Judo (Gutiérrez-Santiago, Gentico-Merino & Prieto-Lage, 2019), im Taekwondo (Maneiro, Amatria & Anguera, 2019), im Basketball (Morillo-Baro et al., 2021) und im Fußball (Castañer et al., 2016) genutzt.


1. Anwendung in der Praxis

Im Sport wird die PKA als Verfahren eingesetzt, welches der Beobachtung und Interpretation von Verhaltensweisen dient (Gamero-Castillero et al., 2022). Dadurch eignet sich die PKA, um u. a. taktisches Verhalten im Sport zu erfassen. Ein häufig in den Beobachtungsstudien genutztes Werkzeug ist die Software HOISAN (Gamero-Castillero et al., 2022; Hernández-Mendo, López López, Castellano Paulis, Morales Sánchez & Pastrana Brincones, 2012), die sowohl die Analyse und als auch die Darstellung der Polarkoordinaten ermöglicht. Trainer*innen können anschließend die Ergebnisse der PKA nutzen, um gemeinsam mit Athlet*innen Kampfstrategien zu entwickeln und eine Hilfestellung bei Entscheidungsprozessen in Kampfsituationen zu geben (Menescardi et al., 2019). Darüber hinaus kann die PKA zur Erkennung von sporttechnischen Fehlern in der Bewegungsausführung genutzt werden. Exemplarisch konnten hier Prieto-Lage, Rodríguez-Souto, Prieto und Gutiérrez-Santiago (2020) an der Judotechnik Tsuri-goshi die Beziehungen von Fehlern zur Gesamtausführung der Wurftechnik nachweisen und praxisrelevante Informationen für den motorischen Lernprozess einer beidbeinigen Eindrehtechnik liefern.


2. Methode

Um die PKA zu nutzen, muss zwingend im Vorfeld eine sequenzielle Analyse durchgeführt werden. Bei dieser werden bestimmte Verhaltenskategorien chronologisch erfasst und daraufhin in Abhängigkeit der zeitlichen Abstände der Handlungen ins Verhältnis gesetzt (Maneiro et al., 2019). Aus technisch-taktischer Perspektive ist die Interaktion der verschiedenen Verhaltensweisen interessant. Dafür wird das zu analysierende Verhalten als ein zentrales Verhalten definiert, welches in der Literatur auch fokales Verhalten genannt wird. Beispielsweise kann diese Verhaltensweise eine Wurfhandlung (z. B. die Wurftechnik Tai-otoshi) sein. Von diesem zentralen Verhalten aus werden alle weiteren Verhaltensweisen erfasst (z. B. Griffe [G], Laufrichtungen [R], weitere Wurf- oder Konterhandlungen [S] bzw. [K], oder auch Wertungen [W]), die in einem bestimmten zeitlichen Intervall vor und nach dem zentralen Verhalten zu beobachten sind (sogenannte Verzögerungen). Aus Anwendungen in Spielsportarten ist bekannt, dass in der Regel fünf Verzögerungen in der Retrospektiven (nachher) und fünf Verzögerungen in der Prospektiven (vorher) betrachtet werden (-­ 5 bis +­ 5). Dieser Zeitabschnitt erscheint allerdings für Kampfsportarten zu lang, weshalb Menescardi et al. (2019) zwei Verzögerungen in Retrospektive und Prospektive im Kampfsport empfehlen (- ­2 bis + ­2). Die Auswertung der Ergebnisse geschieht nun mithilfe der PKA. Die einzelnen Verhaltensweisen werden in einem Koordinatensystem dargestellt, in dem das zentrale Verhalten im Ursprung liegt. Die x-Achse stellt die Prospektive und die y-Achse stellt die Retrospektive dar (Menescardi et al., 2019). Ob ein Wert negativ oder positiv ist, wird danach entschieden, wie häufig ein Verhalten innerhalb der definierten Verzögerungen vor bzw. nach dem zentralen Verhalten auftritt. Dabei ist der Referenzwert (0) eines Verhaltens durch die vorhergehende z-Transformation der Mittelwert definiert. Die Vektorlänge gibt das erreichte Signifikanzniveau wieder (z-Wert von 1,96 entspricht p < .05). Durch diese Komponenten kann die PKA die Beziehungen von Verhaltensweisen sowohl quantitativ (Vektorlänge) als auch qualitativ (Vektorrichtung, Quadrant) beschreiben (Castañer et al., 2016).


3. Interpretation des Polarkoordinatensystems

Abb. 1. Exemplarisches Polarkoordinatensystem. T Tai-otoshi, W Waza-ari, G Griff (Ärmel-Revers), R rückwärtsgehen, S Seoi-nage, K Kontertechnik des Gegners

Die Interpretation wird im Folgenden anhand einer exemplarischen Analyse eines Judowettkampfes erläutert, bei der das zentrale Element im Koordinatenursprung die Wurfhandlung Tai-otoshi (T) ist (Abb. 1). Die weiteren Verhaltensweisen (W, G, R, S, K) stehen dabei in unterschiedlichen Beziehungen zum Tai-otoshi und werden ebenfalls in das Koordinatensystem integriert.

Aus dem Polarkoordinatensystem kann abgeleitet werden, dass der Ärmel-Revers-Griff (G) sowohl häufiger vor als auch nach einem Tai-otoshi auftritt als im Durchschnitt. Für Trainer*innen bedeutet dies, dass ein Ärmel-Revers-Griff einen Tai-otoshi stimuliert, aber auch der Tai-otoshi einen Ärmel-Revers-Griff stimuliert. Dieses Ergebnis ist signifikant, da der rotmarkierte Radius mit einem z-Wert von > 1,96 überschritten wurde. Das Rückwärtsgehen (R) tritt häufig vor Tai-otoshi auf, aber selten danach (positive x-Achse, negative y-Achse). Somit wird Tai-otoshi durch Rückwärtsgehen in der Retrospektiven stimuliert, hemmt Rückwärtsgehen aber in der Prospektive. Die Wurfhandlung Seoi-nage (S) tritt selten direkt vor und nach Tai-otoshi auf. Dementsprechend hemmen sich Tai-otoshi und Seoi-nage gegenseitig. Beziehungen zwischen Würfen könnten Trainer*innen beim Training von Handlungskomplexen helfen. In diesem Beispiel würde dies bedeuten, dass Tai-otoshi und Seoi-nage nicht im selben Handlungskomplex zu üben sind, sondern eher in zwei verschiedenen. Eine Waza-ari-Wertung (W) tritt nur kurz nach einem Tai-otoshi auf, aber nie direkt davor. Somit ist der Retrospektive Wert null und der Waza-ari liegt auf der x-Achse. Ein Tai-otoshi stimuliert damit die Wertung Waza-ari. Kontertechniken (K) des Gegners treten häufiger nach Tai-otoshi auf und seltener davor. Dementsprechend hemmen Konterhandlungen den Tai-otoshi, werden aber von Tai-otoshi stimuliert. Dies ist allerdings nicht signifikant, da der Vektor nicht den Radius überschreitet und kleiner als ein z-Wert von 1,96 ist. Zur Übersichtlichkeit wird i. d. R. auf eine Darstellung von nicht signifikanten Werten verzichtet.


4. Diskussion

Ein Problem der Polarkoordinatenanalyse in Bezug auf die Interpretation ist sicherlich, dass keine absoluten Häufigkeiten durch die z-Transformation abgelesen werden können. Somit kann ein Verhalten als signifikant aufgezeigt werden, obwohl es im Wettkampf nur sehr selten vorkommt. Dies könnte dazu führen, dass Trainer*innen ein bestimmtes Verhalten mit großem Zeitaufwand trainieren lassen, da es mit einem Wurf oder einer Wertung assoziiert wird, obwohl die Wahrscheinlichkeit dieser Kampfsituation jedoch sehr gering ist. Zudem gibt es weitere Möglichkeiten für zeitliche Analysen von Handlungsmustern im Sport, die sich je nach Zielstellung besser eignen. Prieto-Lage et al. (2020) befinden beispielsweise, dass die T-Patterns Analyse für die Fehleranalyse beim Tsuri-goshi als geeigneter, weil diese die Beziehungen zwischen allen Fehlern darstellen kann und es so erlaubt gesamte Fehlerketten zu analysieren.


5. Fazit

Die Stärke der Polarkoordinatenanalyse liegt darin, dass große Datenmengen in einer stark reduzierten Form graphisch dargestellt werden können. Im Sinne der Mixed-Methods-Forschung ermöglicht die Polarkoordinatenanalyse Aussagen zu Beziehungen zwischen Verhaltensweisen sowohl auf quantitativer als auch qualitativer Ebene. Für die Spiel- und Zweikampfsportarten ergibt sich dadurch ein vielversprechendes Praxiswerkzeug für den Austausch von technisch-taktischen und strategischen Informationen. Inwieweit aber ein unmissverständlicher Erkenntnistransfer zwischen Trainer*in und Trainingswissenschaftler*in möglich ist, bleibt die Polarkoordinatenanalyse noch schuldig.


Literatur
  1. Castañer, M., Barreira, D., Camerino, O., Anguera, M. T., Canton, A., & Hileno, R. (2016). Goal Scoring in Soccer: A Polar Coordinate Analysis of Motor Skills Used by Lionel Messi. Frontiers in psychology, 7, 806.
  2. Gamero-Castillero, J. A., Quiñones-Rodríguez, Y., Apollaro, G., Hernández-Mendo, A., Morales-Sánchez, V. & Falcó, C. (2022). Application of the Polar Coordinate Technique in the Study of Technical-Tactical Scoring Actions in Taekwondo. Frontiers in Sports and Active Living, 4 (877502).
  3. Gutiérrez-Santiago, A., Gentico-Merino, L. A. & Prieto-Lage, I. (2019). Detection of the technical-tactical pattern of the scoring actions in judo in the men`s category of -73 kg. International Journal of Performance Analysis in Sport, 19 (5), 778-793.
  4. Hernández-Mendo, A., López López, J. A., Castellano Paulis, J., Morales Sánchez, V. & Pastrana Brincones, J. L. (2012). Hoisan 1.2: Programa informático para uso en metodología observacional. Cuadernos de psicología del deporte, 12 (1), 55-78.
  5. Maneiro, R., Amatria, M. & Anguera, M. T. (2019). Dynamics of Xavi Hernández’s game: a vectorial study through polar coordinate analysis. Proceedings of the Institution of Mechanical Engineers, Part P: Journal of Sports Engineering and Technology, 233 (3), 389-401.
  6. Menescardi, C., Falco, C., Estevan, I., Ros, C., Morales-Sánchez, V. & Hernández-Mendo, A. (2019). Is It Possible to Predict an Athlete’s Behavior? The Use of Polar Coordinates to Identify Key Patterns in Taekwondo. [Original Research]. Frontiers in Psychology, 10 (1232).
  7. Morillo-Baro, J. P., Troyano-Gallegos, B., Pastrana-Brincones, J. L., Vázquez-Diz, J. A., Reigal, R. E., Quiñones-Rodríguez, Y., Hernández-Mendo, A., Falcó, C. & Morales-Sánchez, V. (2021). Data Mining and Polar Coordinates in the Analysis by Gender of Finishing Behaviors in Professional Basketball Pick and Roll. [Original Research]. Frontiers in Sports and Active Living, 3.
  8. Perea, A., Castellano, J., Alday, L. & Hernández-Mendo, A. (2012). Analysis of behaviour in sports through Polar Coordinate Analysis with MATLAB®. Quality & Quantity, 46 (4), 1249-1260.
  9. Prieto-Lage, I., Rodríguez-Souto, M., Prieto, M. & Gutiérrez-Santiago, A. (2020). Technical analysis in Tsuri-goshi through three complementary observational analysis. Physiology & Behavior, 216 (112804).
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