Wissenschaftliche Unterstützung auf dem Weg zu den Paralympics Tokio 2020

Erfahrungen der olympischen Sportarten nutzen

Als im August 2021 das deutsche Paralympicsteam in Tokio um Medaillen kämpfte, fieberten einige Wissenschaftler*innen am IAT noch ein wenig intensiver mit als bei früheren Spielen. „Man ist emotional einfach sehr nah dran und fühlt mit den Athlet*innen“, sagt Christian Otto, der eines von vier Parasport-Projekten am IAT leitet. Erst Anfang 2020 hat das IAT seine Kooperation mit dem Deutschen Behindertensportverband mit zwei Projekten im Paraschwimmen und der Paraleichtathletik gestartet. Im März 2021 kamen mit Parakanu und Parabiathlon zwei weitere Projekte hinzu. Das Ziel: Auf den Erfahrungen aus der zuvor ausschließlich auf olympische Sportarten ausgerichteten Unterstützung aufbauen, um ein eigenes System der trainingswissenschaftlichen Unterstützung und Prozessbegleitung im Parasport zu entwickeln.


Neue Leistungsdiagnostik-Konzeption im Paraschwimmen


Im Projekt Paraschwimmen hatte Christian Otto zunächst die Aufgabe, die Vorbereitung auf die Paralympics im Jahr 2020 zu unterstützen. Gleich zu Jahresbeginn fand eine erste Leistungsdiagnostik am IAT mit allen Tokio-Kandidaten statt. „Dann kam die Coronapandemie und es wurden viele Maßnahmen und schließlich auch die Spiele abgesagt“, blickt Christian Otto zurück. Seine Konzentration richtete er deshalb zum einen auf die Weltstandsanalyse, die aufgrund fehlender Wettkämpfe vor allem aus einer Sichtung des aktuellen Forschungsstands und der Literaturanalyse zu Klassifikationsrichtlinien für die insgesamt 14 verschiedenen Startklassen bestand. Zum anderen entwickelte er gemeinsam mit Bundestrainerin Ute Schinkitz eine neue Konzeption für die Leistungsdiagnostik, die im Herbst 2020 erstmals vollumfänglich mit 20 Athletinnen und Athleten in vier Durchgängen am IAT durchgeführt wurde. Mangels Orientierungswerten wurde der individuelle Leistungsstand jeweils im Rahmen von Auswertungsgesprächen zwischen Trainingswissenschaftler und Trainer*innen eingeschätzt und somit die Grundlage für die Vorbereitung auf die neu angesetzten Paralympics in 2021 gelegt.


Individuelle Unterstützung der Athlet*innen


„Wir haben dann mit erfolgreichen Athlet*innen, wie Elena Krawzow und Taliso Engel sehr individuell gearbeitet und uns auf die Optimierung der Schwimmtechnik und der Leistungsvoraussetzungen konzentriert“, erklärt Christian Otto. Individuelles Vorgehen ist im Schwimmen üblich, dennoch ist es im Paraschwimmteam noch eine größere Herausforderung mit den zahlreichen Startklassen und Disziplinen. Hinzu kommen große Altersunterschiede, insbesondere hinsichtlich des Trainingsalters der Athlet*innen. Das macht die Unterstützung sehr zeitintensiv, denn es muss Vertrauen aufgebaut und oftmals müssen persönliche Hürden überwunden werden. „Wir haben bei jedem Sportler geschaut, was und wie trainiert er und wie verkraftet er es“, so Otto, der als Triathlet selbst viele Jahre auf höchstem Niveau aktiv war.

Bei den Paralympics in Tokio konnte das deutsche Paraschwimmteam mit 10 Athleten zwei Gold- und drei Bronzemedaillen gewinnen. Dominant waren im Becken von Tokio die Chinesen, die mit 32 Starter*innen 56 Medaillen bei 148 Entscheidungen gewannen. Nach diesem tollen Erfolg blickt Christian Otto bereits voraus: „Die Leistungsentwicklung der Weltspitze geht weiter. Deshalb wollen wir bis 2024 Anforderungsprofile für die für uns wichtigen Startklassen entwickeln, um Trainings- und Leistungsvorgaben noch fundierter gestalten zu können.“ Das Datenmanagement soll über die neue IDA Paraschwimmen laufen. Strukturell müsse die Talentidentikation verbessert werden. Zudem sieht Christian Otto weitere Reserven: „Wir wissen, dass andere Nationen ihre Athlet*innen auf die Klassifizierungstests vorbereiten, die von einem unabhängigen Verband als Grundlage für die Zuordnung zu den Startklassen abgefordert werden. Hier müssen unsere Sportler noch besser unterstützt werden, damit sie keinen Nachteil haben.“


Leistungsdiagnostik und Messplatztraining in den Parawurfdisziplinen


Eine fundierte trainingswissenschaftliche Prozessbegleitung hat auch Julia Roediger im Blick und eine enorme Herausforderung gleich dazu. Die Projektleiterin für den paraleichtathletischen Wurf will Anforderungsprofile und Technikleitbilder für 31 Startklassen in vier Disziplinen erarbeiten. Wichtige Grundlage hierfür ist für sie die dreidimensionale Videoanalyse am Messplatz Wurf/Stoß sowie bei den Wettkämpfen, mit der sie Abwurfparameter, wie Geschwindigkeit, die Winkel verschiedener Körpersegmente, Rumpfwinkel und Verwringung bestimmen kann.
Im Zentrum der wissenschaftlichen Unterstützung steht auch hier die Leistungsdiagnostik, die dreimal im Jahr am IAT stattfindet und sich eng am Testprogramm der Nichtbehinderten orientiert. „Sowohl am Messplatz als auch bei den Leistungsvoraussetzungen haben wir uns gemeinsam sukzessive vorangetastet und in der Diagnostik angepasst, was ging und was nicht,“ erklärt Julia Roediger.
Ähnlich wie beim Paraschwimmen gibt es zudem erst einmal keine spezifischen Orientierungswerte zur Beurteilung des Leistungsstands. Insbesondere für die sitzenden Athlet*innen sind die wissenschaftliche Erkenntnisse veraltet. „Wir geben Trainingsempfehlungen nach intraindividuellen Vergleichen und orientieren uns bei den biomechanischen Parametern soweit es möglich ist an den olympischen Athlet*innen“, erläutert Julia Roediger. Dazu wurde mit Unterstützung der Fachgruppe Wurf/Stoß das Mess- und Informationssystem um die paralympischen Disziplinen erweitert und der Messplatz für die paralympischen Athlet*innen angepasst. Gerade für die Technikoptimierung ist der Messplatz ein wertvolles Hilfsmittel, weil mittels Videobild und Kraftmessung unmittelbar kleinste Unterschiede sichtbar gemacht werden können. Dies wurde in der Vorbereitung auf die Paralympics intensiv genutzt. „Die Athlet*innen waren bei der gemeinsamen Arbeit am Messplatz super motiviert“, betont Julia Roediger.
Auch wenn die paralympischen Werfer*innen in Tokio aufgrund zahlreicher Verletzungen und coronabedingter Ausfälle mit einer Silber- und zwei Bronzemedaillen nicht ganz an die überragende Bilanz von Rio 2016 anknüpfen konnten, blickt Julia Roediger optimistisch in die Zukunft: „Wir hatten zum Teil sehr junge Athlet*innen am Start, die erstmals Erfahrungen sammeln konnten.“ Auch im Parawurf ist dank Spezialisierung und Professionalisierung ein steiler Leistungsanstieg bei der Weltspitze zu verzeichnen. Um in Paris 2024 erfolgreich zu sein, will Julia Roediger die Trainingsanalyse in einer IDA für die vier Wurfdisziplinen und den Nachwuchsleistungssport vereinheitlichen. Weitere Forschungsvorhaben sind die Positionsoptimierung mittels eines universell verstellbaren Wurfstuhls sowie die Ermittlung von Technikparametern für sitzende und stehende Kugelstoßer*innen.