Bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 finden urbane Sportarten nicht in traditionellen Sportstadien, sondern in ihrem natürlichen Umfeld statt. Neben BMX Freestyle, Breakdance und 3x3 Basketball werden die Skateboarding-Wettkämpfe im Herzen der Stadt auf dem Place de la Concord stattfinden. Auf diesem symbolträchtigen Platz werden sich Sport, Musik, Kunst und Kultur zu einem urbanen nachhaltigen Event verbinden. Insbesondere für Skateboarding – eine Sportart, die seit Beginn des Jahres 2022 vom IAT wissenschaftlich unterstützt wird – ist der urbane Raum die Referenz. Im Skateboarding gibt es seit den 1960-er Jahren verschiedene Formen von Wettkämpfen, sogenannte Contests. Erstmals ins olympische Programm aufgenommen wurde die Sportart in Tokio, mit den beiden Disziplinen „Park“ und „Street“.
In der Disziplin „Park“ werden die komplexen Sporttechniken, Tricks, in einem kurvenartigen Parcours ausgeführt, der aus Halfpipes, Pools und Rampen besteht. In der Disziplin „Street“ sind hingegen komplizierte Trickkombinationen an Hindernissen (Obstacles), die Elementen aus dem Straßenbild nachempfunden sind, zu zeigen. Diese Obstacles können zum Beispiel Treppen oder Geländer sein.
Skateboarding hat sich außerhalb der olympischen Strukturen in diversen Contests entwickelt. Weltweit betreiben schätzungsweise 50 Millionen Menschen diese Sportart, in Deutschland etwa 2,3 Millionen. Es sind nur Schätzungen, da viele den informellen Charakter der Sportart lieben und nicht in Vereinen organisiert sind.
Skateboarding als Leistungssport
Leistungssportlich orientiert gibt es in Deutschland derzeit einen 12-köpfigen Kader, jeweils sechs in den beiden olympischen Disziplinen. Hinzu kommen in Deutschland rund 30 bis 40 Nachwuchssportlerinnen und -sportler, die den Regionalkaderstatus bis 18 Jahre besitzen. Im Deutschen Rollsport- und Inline Verband e. V. , dem Kooperationspartner des IAT seit Anfang 2022, gibt es im Vergleich zu anderen Spitzenverbänden mit vier nur wenig hauptamtlich Angestellte für die Sportart.
Der Start der Deutschen beim Debüt der Sportart in Tokio war erfolgreich. So verpasste die damals erst 14-jährige Lilly Stoephasius das Olympiafinale in der Disziplin Park nur knapp. Sie landete auf einem sehr guten 9. Platz. Teamkollege Tyler Edtmayer startete mit gebrochenem Arm nach einem Trainingsunfall vor Ort. Trotz dieses Handicaps belegte er Rang 15. In der Disziplin Street konnten sich noch keine Deutschen für Olympia qualifizieren. Das lag nach Einschätzung der Street-Bundestrainerin Lea Schairer an einem noch zu niedrigen Schwierigkeitsniveau der Tricks der Deutschen. Generell sehen sie und Park-Bundestrainer Jürgen Horrwarth eine wesentliche Leistungsreserve in der Erhöhung der Trickschwierigkeiten.
Weltstandsanalyse
Damit weitere Leistungsreserven und -potenziale aufgedeckt werden können, besteht eine erste Hauptaufgabe der Fachgruppe am IAT darin, eine Wettkampf- beziehungsweise Weltstandsanalyse zu entwickeln. Die Ergebnisse sind dann Grundlage für Schwerpunkte in der prozessbegleitenden Trainings- und Wettkampfforschung. Der Fokus der Analysen liegt auf den ausgeführten Tricks im Contest. Bezüglich der Tricks an den Obstacles gibt es keine Vorgaben – jeder zeigt seine besten an den spektakulärsten Obstalces, um zu gewinnen. „Es gibt fünf Judges, die nach subjektiver Einschätzung werten“, erklärt Fachgruppenleiter Skateboarding Dr. Niklas Noth. Die Judges vergeben auf der Grundlage von Kriterien eine Gesamtnote, die „Overall Impression“. Wesentliche Maßstäbe der Bewertung sind allgemein die routinierte und virtuose Ausführung, Vielfalt und Schwierigkeit der Tricks und ob diese in einer harmonischen Line stabil dargeboten werden. Eine besondere Bedeutung haben vor allem Individualität und Kreativität. Es gibt allerdings keine festgelegten Schwierigkeitsgrade wie in anderen akrobatischen Sportarten. „Die Bewertung im Skateboarding erfolgt auf der Grundlage von Bewertungskriterien und über das ‚kollektive Wissen‘, wie es typisch für die akrobatischen Freestylesportarten ist.“ Wie Dr. Noth erklärt, sei dies aber auch genauso gewollt. „Damit verändert sich die Sportart immer wieder und bleibt attraktiv.“
Da die „Overall Impression“ von sehr vielen verschiedenen Merkmalen beeinflusst wird, subjektiv geprägt und schwer nachvollziehbar ist, ist ein Ziel der Arbeit der IAT-Fachgruppe zu untersuchen, ob es bestimmte Merkmale gibt, die von der Jury besonders hoch bewertet werden. „Mit Wettkampfanalysen möchten wir besser beurteilen, was hinter einer Leistung steht,“ erläutert der IAT-Wissenschaftler. Viel ist in den Judging-Kriterien niedergeschrieben, die jedoch – ähnlich wie beim Snowboard – sehr offen und weich formuliert sind. So ist zum Beispiel festgelegt, dass die Schwierigkeit den größten Einfluss hat, aber auch die Qualität. Ein anderes Kriterium ist der „Use of Course“. Das bedeutet, wie jemand die Vielfalt an Obstacles ausnutzt. „So gibt es sehr viele Kriterien, die zu nur einer Bewertung führen“, fasst der IAT-Fachmann Niklas Noth zusammen.
Eine erste WM-Analyse der Männer belegt die Vielfalt und den hohen Individualisierungsgrad der Tricks der internationalen Weltspitze sowie den hohen Einfluss der Trickschwierigkeiten. So wurden von den acht Finalisten der WM 2022 insgesamt 68 verschiedene Tricks vorgeführt und bis zu zehn bewegungsstrukturell unterschiedliche Trickkategorien dargeboten. Insbesondere bei den sehr schwierigen Tricks ist eine starke Individualisierung festzustellen. Das hat auch zur Folge, dass die Skaterinnen und Skater verschiedene schwierige Tricks beherrschen sollten, um sich von der Konkurrenz absetzen zu können. Die Individualisierung des Skateboardings habe inzwischen dazu geführt, dass Topathleten sogar sogenannte „Signature-Tricks“ entwickelt haben, erklärt der IAT-Wissenschaftler.
Lernstrategien im Skateboarding
Eine Besonderheit im Skateboarding ist das Techniktraining, das zu einem großen Teil ohne Trainerin oder Trainer selbstreflektiert und -organisiert erfolgt. Hier zeigen sich Parallelen zu den akrobatischen Freestyle-Disziplinen Snowboard Freestyle, BMX Park, Surfen oder Breakdance. Dr. Noth betont: „Das Training selbst findet informell organisiert in einer Gruppe oder allein statt. Diese Selbstbestimmtheit macht einen besonderen Reiz der Sportart aus. Derzeit greifen die wenigen Trainer strukturell in den Trainingsprozess ein, organisieren Trainings- und Wettkampfreisen oder platzieren gezielt Trainingsinhalte.“
Auch gibt es keine Bundesstützpunkte, an denen täglich trainiert wird. „Viele Skateboarderinnen und Skateboarder reisen durch die Welt, sind sehr viel unterwegs. Sie brauchen ständig neuen Input, das gehört zur Sportart dazu. Du musst kreativ sein, du musst etwas Neues machen. Und ständig gibt es neue Anforderungen in den Contests – und auch bei Olympia und den vorbereitenden Wettkämpfen.“ Denn die Ob-
stacles und die Hindernisse im Street ähneln sich zwar alle – sie sind ja dem Straßenbild nachempfunden –, aber sie sind nicht standardisiert. Es bringt nichts, immer am gleichen Ort zu trainieren. „Zur Sportart gehört es, sehr vielseitig, sehr variabel an verschiedenen Orten zu skaten, um neue Anreize zu schaffen, sich schnell einer Situation anpassen zu können.“
Die dabei angewendeten Lernstrategien jedes einzelnen beeinflussen den Aneignungsprozess der Tricks. Deshalb sollen in dem neuen Forschungsprojekt Lernstrategien von Skaterinnen und Skatern unterschiedlicher Leistungsniveaus untersucht werden. So soll herausgefunden werden, welche Lernstrategien im Skateboarding angewendet werden und von besonderer Bedeutung sind. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen helfen, die Athletinnen und Athleten im Lernprozess der komplexen Tricks in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris zu unterstützen.
*Der Beitrag entstand im Rahmen der Jahresbilanz IAT/FES im Dezember 2022