Nach den Analysen während der Tournee erklärte Dr. Müller: „Es ist im Skispringen sehr entscheidend, wie ein Athlet mit seiner individuellen Technik ein materielles Setup findet, um möglichst effektiv skizuspringen.“ Auch nach den Reglementänderungen bezüglich des Materials haben die Deutschen gute Anzüge, „aktuell fehlt es wahrscheinlich an einem sehr kleinen Detail“, schätzte Dr. Müller nach der Vierschanzentournee ein. „Unsere Analysen von Anfahrt, Absprung und Flug decken den Bewegungsablauf zwar fast komplett ab, spiegeln aber nicht alle dynamischen Prozesse wider. Die standardisierten Analysen zeigen vergleichbare Parameter an ausgewählten Bewegungsabschnitten auf, und diese können wir beurteilen. Aber aufgrund der hohen Geschwindigkeit, der wirkenden Luftkräfte, die nicht immer messbaren Reaktionen der Sportler darauf, erschweren die Einschätzung, wobei wir den Einfluss des Materials noch nicht berücksichtigt haben. Das alles macht es diffizil, und große Weitenunterschiede lassen sich anhand unserer erfassten Parameter nicht immer aufklären.“
Mit den Plätzen vier, sechs und 14 für Karl Geiger, Andreas Wellinger und den 22-jährigen Philipp Raimund war es ein guter Start bei Auftaktspringen in Oberstdorf. Dr. Müller und IAT-Kollege Mario Kürschner waren vor Ort, um das deutsche Team mit Analysen zu unterstützen. „Die Deutschen zeigten mit den Ergebnissen in Oberstdorf, was wir auch schon vor der Saison gesehen haben – wir sind in der Lage zur Weltspitze zu gehören“, sagte Dr. Müller. So ergaben bereits die Daten aus dem Sommer und Herbst, dass neben den Etablierten auch Raimund sehr gut wegspringen und die erste Hälfte gut fliegen kann. „Anhand der Daten lässt sich begründen, dass alle einen Schritt nach vorn machten und auf einen guten Weg waren, im Winter wieder Spitzenleistungen zu zeigen.“
Weltcup-Auftakt zeigte Materialschwächen
Beim Weltcup-Auftakt in Polen, so glaubt Müller, waren die Deutschen materialtechnisch nicht auf der gleichen Stufe wie ein Teil der Konkurrenz. „Das war auffällig, aber nicht schlimm. Es wurde nachjustiert.“ Am meisten wunderte es den Wissenschaftler, dass Wellinger nicht „flog“, im Herbst hatte er überhaupt keine Probleme. Aufgrund seiner neuen Ski wurde deshalb der Frage nachgegangen, ob am Material etwas optimiert werden muss. Analysen noch vor Weihnachten in Oberstdorf, in Zusammenarbeit mit dem OSP Bayern, zeigten, dass der Ski bei Wellinger zu wenig Anstellwinkel hatte. „Das haben wir dann noch einmal diskutiert. Weil so deutlich, wie wir das anhand der Daten sehen konnten, war es nicht aufgefallen.“ Möglich war das durch die Kameraaufnahmen von der Seite, in Flugbahnhöhe. Entsprechend wurde am Materialsetup optimiert, aber ein neuer Ski konnte natürlich nicht über Weihnachten gebaut und getestet werden. Wie stark der Einfluss des Materials ist, zeigte sich auch in der zu niedrigen Anfahrtsgeschwindigkeit zu Beginn der Weltcups. Auch hier wurde durch die Technikerteams der Ski optimiert. Das Ziel des Teams, konkurrenzfähig in der Spitze mitzuspringen, war beim Tour-Auftaktspringen erreicht. Deshalb verabschiedete sich das Wissenschaftlerteam in Oberstdorf mit den Worten: „So weitermachen.“ Auch in der Hoffnung, dass Eisenbichler, bei dem kleine Fehler analysiert wurden, mit den entsprechenden Korrekturen wieder schnell sein hohes Leistungsvermögen erreicht.
Finale Analysen zeigen keine signifikanten Fehler im Vergleich zur Konkurrenz. Im Gegenteil.
Was den Deutschen nach Meinung Dr. Müllers fehlt, ist die Bestätigung, dass ihre Sprünge „funktionieren“ – und damit das Selbstvertrauen. Denn nach den finalen Analysen nach der Tournee hatte sich ergeben, „dass wir nicht DEN großen Rückstand, DEN Fehler gegenüber den anderen gemacht haben. Wir fahren als Mannschaft am schnellsten an. Wir springen ebenso intensiv ab. Unsere Absprunggestaltung ist auf dem Niveau der Weltbesten, zum Teil mit etwas größerem Oberkörpereinsatz, was als eine Ursache identifiziert werden konnte, dass es unseren nicht immer gelingt, nach dem Absprung so schnell in die Flugdrehung zu kommen wie es die Weltbesten gerade zeigen.“ Überragend kann dies gerade der Norweger Halvor Egner Granerud. Mit Daten lasse sich das auch begründen. „Er ist mit dem Körper am schnellsten über dem Ski, am ehesten in der effektiven Fluglage, hat am wenigsten Verlust in der horizontalen Geschwindigkeit, kann somit am ehesten diese Luftkräfte optimal ausnutzen und fliegt damit am schnellsten in den Hang hinein. Und den Rest steuert er natürlich dann auch gut.
Dass es auch anderen Athleten aktuell schwerfällt, zeigt die Tatsache, dass in dieser Saison mit wenigen Ausnahmen immer die gleichen vier, fünf Athleten auf die Podestplätze springen. Diese haben das komplexe Gefüge zwischen Bewegungsausführung – Materialeinfluss – Selbstvertrauen am besten hinbekommen und realisieren damit die effektivste Technik, die die größten Weiten zulässt. „Sie fliegen mit einer Körpervorlage in den Hang hinein, die wir selten so groß gemessen haben.“ Während der Vierschanzentournee ist ein Nachjustieren für alle anderen Athleten kaum möglich, da keine Zeit zum Testen zwischen den Wettkämpfen bleibt. Hinzu komme dann auch mal Pech mit den äußeren Bedingungen, entsprechende Negativerlebnisse, was dann zu einem enttäuschenden Ergebnis führe.
Internationale Entwicklung
„Die Entwicklung der Skisprungtechnik geht ungebremst weiter, ist aber stark abhängig von dem immer weiter optimierten Material, womit die Athleten die Luftkräfte immer besser nutzen können“, erklärt Dr. Müller. Zusammenfassend sagt er: „Der Abstand, den die Deutschen aktuell haben, ist zu groß, als dass der nur auf die Unterschiede, die wir jetzt in den Parametern sehen, zurückzuführen ist. Also muss noch etwas in dem Materialbereich liegen“, so lautete das Fazit des IAT-Wissenschaftlers nach der Vierschanzentournee.
*Der Beitrag entstand für den IAT-Newsletter im Februar 2023