Snowboarden ist eine vergleichsweise junge Wintersportart, die sich aus den Sportarten Surfen und Skaten entwickelt hat und 1998 mit Wettbewerben in der Halfpipe und im Riesenslalom olympisch wurde. In Pyeongchang 2018 wurden in jeweils fünf Disziplinen bei den Männern und Frauen 30 olympische Medaillen vergeben. Zwei davon konnten sich deutsche Athletinnen im Parallel-Riesenslalom sichern. Während die Athlet*innen von Snowboard Germany in den Race-Disziplinen also bereits Weltspitze sind, soll dies in den Freestyle-Disziplinen Halfpipe, Slopestyle und Big Air mittelfristig auch gelingen. Dazu gibt es seit 2019 ein Projekt am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft unter Leitung von Christian Merz.
Weltstandsanalyse als Basis jedes IAT-Projekts
Wie bei jedem Projekt am IAT bildet die Weltstandsanalyse die Grundlage für die prozessbegleitende Trainings- und Wettkampfforschung. Dabei schauen sich die Wissenschaftler an, wie der Leistungsstand deutscher Athlet*innen im Vergleich zur Weltspitze ist, wie sich Wettkampf- und Trainingssysteme entwickeln und welche Tendenzen es im Regelwerk, bei den Qualifizierungsrichtlinien und in Sachen Ausrüstung und Material gibt. So erhalten sie Aufschluss darüber, welche Leistungspotenziale zu erschließen sind.
Generell gibt es weltweit nur sehr wenige wissenschaftliche Studien zum Snowboarden. Eine Herausforderung in den Freestyle-Disziplinen sind die im Vergleich zu den traditionellen akrobatischen Sportarten relativ offenen Bewertungskriterien, die den Athlet*innen die Entwicklung eines individuellen Stils ermöglichen. „Das heißt, es gibt nicht die eine perfekte Technikausführung, wie wir sie beispielsweise aus dem Gerätturnen kennen,“ erklärt Christian Merz. Hinzu kommt, dass sportartimmanente Ideale, wie Freiheit, Hedonismus und Rebellion, mit den Anforderungen des Wettkampfsports, wie Disziplin, Kontrolle und Leistungssteigerung, in Einklang zu bringen sind. „Für die Athleten geht es vor allem darum, einen coolen Trick zu schaffen“, betont der Trainingswissenschaftler. „Die Bewertung steht für sie erst an zweiter Stelle.“ Wie diese ausfällt, liegt im Ermessen eines Kampfrichterteams, das Punkte anhand subjektiver Bewertungskriterien, wie Amplitude, Schwierigkeit, Ausführung/Style, Variation und Progression/Fortschritt vergibt.
Die hohe Leistungsdichte an der Weltspitze erschwert die subjektive Bewertung für die Kampfrichter und die Nachvollziehbarkeit der Punkte für Athlet*innen, Trainer*innen und Zuschauer*innen. Aufgabe der IAT-Experten war es deshalb, zunächst einmal objektive Parameter zu bestimmen, die einen Zusammenhang mit den subjektiven Wertungspunkten aufweisen. „Wir haben mittels statistischer Verfahren errechnet, dass insbesondere die Flugzeit und die Rotationszahl, aber auch die Zahl der Doppelsalti/Double Corks und der Rotationsvarianten für eine gute Bewertung entscheidend sind,“ erläutert Christian Merz. In der Weltstandsanalyse haben sich die IAT-Wissenschaftler diese Parameter deshalb genauer angeschaut und nachgewiesen, dass insbesondere bei der Rotationszahl Reserven bei den deutschen Athlet*innen bestehen (siehe Abbildung links).
Schwerpunkte des aktuellen Projekts
Im aktuellen Forschungsprojekt werden deshalb zunächst biomechanische Orientierungswerte bei Rotationsbewegungen auf dem Off-Snow-Trainingsgerät Trampolin erarbeitet. Diese sind notwendig, um das Erlernen neuer Tricks mit größerer Rotationszahl zielgerichteter gestalten zu können. Für die Bewegungsanalyse erproben die IAT-Wissenschaftler das markerlose Messsystem Simi Motion mit der Auswertungssoftware Simi Shape. Dabei ist Snowboarden eine von mehreren Sportarten am IAT und an ausgewählten Olympiastützpunkten, in der das System zum Einsatz kommt. Die Experten prüfen, ob die Technologie genau genug arbeitet. Dank des silhouettenbasierten Trackings der Gelenkpunkte könnten dann unter Anwendung von künstlicher Intelligenz, an der die Entwickler von Simi Reality Motion Systems selbst gerade arbeiten, biomechanische Parameter, wie Geschwindigkeit, Drehimpuls, Flugzeit und Körperwinkel, künftig per Knopfdruck ausgegeben werden. Bislang müssen die Gelenkpunkte in vielen Sportarten noch durch aufwendiges Klicken ermittelt werden.
Komplexes Vorgehen in der wissenschaftlichen Unterstützung
Zusätzlich unterstützt die IAT-Fachgruppe das Trainerteam von Snowboard Germany mit wissenschaftlichen Unterstützungsleistungen. Hier kann auf zum Teil jahrzehntelange Erfahrungen aus anderen technisch-akrobatischen Sportarten zurückgegriffen werden, was beispielsweise die Messtechnik und -verfahren, aber auch die biomechanischen Grundprinzipien beim Erlernen neuer Elemente anbelangt. Auf der Basis kontinuierlicher Analysen in Training, Diagnostik und Wettkampf arbeiten die IAT-Wissenschaftler im aktuellen Projekt an methodischen Reihen zur technischen, akrobatischen Ausbildung ausgewählter Sprünge und an der Evaluierung und Weiterentwicklung von Athletiktests inklusive eines Trainingsmittelkatalogs. Ein wichtiger Baustein ist hier das Datenmanagementsystem IDA, das gemeinsam mit den Programmierern des Fachbereichs MINT entwickelt wird. Auch die Daten aus den leistungsdiagnostischen Untersuchungen am OSP Bayern fließen hier ein. Zudem unterstützen die IAT-Wissenschaftler den Spitzenverband bei der Rahmentrainingskonzeption.
Zunehmend wenden sich die Trainer*innen mit ad hoc auftretenden Fragen an Christian Merz. Regelmäßig finden online Coaches Meetings zum Wissensaustausch statt. Mithilfe der Literaturdatenbank (LIDA) Snowboard, die er in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich SWM pflegt, behält er den aktuellen Forschungsstand im Blick, um hilfreiche Hinweise an die Praxispartner geben zu können. So auch in Zeiten der Coronapandemie, als unter anderem konkrete Fragen zur möglichen Strukturierung des Sommertrainings von Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit aufkamen.
Ziel Olympiamedaille 2026
Gemeinsames Ziel von Verband und IAT ist eine Medaille bei den Olympischen Winterspielen 2026 in einer der drei Freestyle-Disziplinen. Auf dem Weg dorthin soll 2022 erstmals die Qualifikation in allen Disziplinen gelingen. Dazu müssen neben der sportlichen Entwicklung, die das IAT mit dem Projekt unterstützt, auch die strukturellen Rahmenbedingungen stimmen. „Es wäre wichtig, dass der Verband künftig mehr Athlet*innen zu den internationalen Wettkämpfen schicken könnte, damit sich diese mit den Besten messen können,“ betont Merz. Hierfür sind die Mittel des Verbands jedoch leider sehr begrenzt. Bei den Trainingsstätten konnte der Verband gegenüber den Topnationen etwas aufholen: Seit dem Sommer 2020 gibt es am zentralen und einzigen Stützpunkt Berchtesgaden endlich eine eigene Skate-Anlage für das Sommertraining. „Der nächste Schritt hin zu einem Stützpunkt auf Weltspitzenniveau wäre die Anschaffung eines Landing Bags. Mit dessen Hilfe lassen sich sportartspezifisch, wetterunabhängig und mit geringem Verletzungsrisiko die hohen Wiederholungszahlen realisieren, die im Lernprozess der komplexen akrobatischen Tricks notwendig sind“, sagt Merz.