Erprobung in Pilotsportarten
Dazu wurde mit Unterstützung des Deutschen Olympischen Sportbundes und mit Förderung des Bundesinnenministeriums 2019 eine Kooperation mit dem Technologiepartner Simi Reality Motion Systems GmbH und den Olympiastützpunkten gestartet. Projektleiter am IAT ist Steven Pickardt, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fachbereichs Biomechanik/Sporttechnologie eng mit den Trainingswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Sportarten-Fachgruppen des Instituts kooperiert. In verschiedenen Leuchtturmprojekten wurde das silhouettenbasierte Verfahren mit Simi Shape auf seine Einsatzmöglichkeit im Spitzensport hin evaluiert. „Wir haben das System auf Herz und Nieren geprüft,“ erläutert Pickardt. Gemeinsames Ziel der Kooperationspartner war es, eine Lösung für die markerlose Bewegungsanalyse zu erhalten, die sowohl in der angewandten trainingswissenschaftlichen Forschung als auch in der wissenschaftlichen Unterstützung des Leistungssports, beispielsweise in der komplexen Leistungsdiagnostik, Anwendung finden kann.
„Wir mussten zunächst wissen, ob das Verfahren eine für den Leistungssport ausreichend hohe Datenqualität liefern und diese auch reproduzieren kann,“ erklärt Pickardt. Eine Herausforderung war dabei, dass es keinen „Goldstandard“ gibt, der als Vergleichsbasis für die mit Simi Shape erhobenen Daten genutzt werden kann. In die Erprobungsphase wurden sowohl Sportarten mit hauptsächlich linearen, translatorischen Bewegungsanteilen (Bsp. Skispringen), als auch mit rotatorischen Bewegungen (Bsp. Wurfdisziplinen) sowie mit komplexen, technisch-kompositorischen Bewegungsabläufen (Bsp. Akrobatik/Snowboard) aufgenommen. Beim Skispringen ermittelten die Wissenschaftler die Parameter für den in der Absprungphase erzeugten Drehimpuls. In drei Lehrgängen nahmen sie ca. 250 Sprünge auf. Dank eines automatisch laufenden Hintergrund-Trackings direkt nach der Aufnahme konnten rund 40 Versuche in 20 Minuten ausgewertet und die relevanten Parameter sowohl im Video als auch im 3-D-Modell ausgegeben werden. Im Diskuswurf lag der Fokus in der Bewegungsanalyse auf der Wurfgerät-Verfolgung. Nunmehr stehen den Wissenschaftlern neben den dynamometrischen und kinematischen Daten aus dem MIS Wurf/Stoß weitere Parameter zur Auswertung zur Verfügung, die auch direkt in das MIS eingebunden werden konnten. Ein weiteres Pilotprojekt ist Snowboard, wobei in der Mehrfachrotation eine besondere Herausforderung bestand. Ziel war es hier, zunächst für das Off-Snow-Trainingsmittel Trampolin Orientierungswerte von Absprungparametern zu bestimmen, die in einem zweiten Schritt auch im Feld erfasst und erprobt wurden.
Optimierung mithilfe sportartspezifischer neuronaler Netze
„Eine wichtige Erkenntnis aus den Pilotprojekten war, dass je besser die Segmentierung erfolgen kann, desto stabiler geschieht das Tracking und umso genauer sind die Ergebnisse,“ sagt Pickardt. „Und wir haben gelernt, dass Schatten, gleiche Farbgebung bei Kleidung und Hintergrund, aber auch gleiche Lichtfrequenzen die Datenqualität mindern. Bei der Silhouettenerfassung ist entscheidend, wie gut sich das Objekt vom Hintergrund abhebt.“ Um die Datenqualität weiter zu erhöhen, hat Simi Motion die Software mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz weiterentwickelt. „Ein neuronales Netz kann die sportartspezifische Bewegung detektieren und so lernt es mit jeder Analyse weiter und erhöht damit seine Genauigkeit,“ erklärt Pickardt.
Einsatz in der angewandten Forschung
Mittlerweile hat Pickardt Simi Shape auch in weiteren kleineren Projekten im Tischtennis, Badminton, Eiskunstlauf, Skeleton, Wasserspringen, Gerätturnen und Gewichtheben eingesetzt. Das Fazit: Es gibt keine hundertprozentige Genauigkeit, aber das System läuft stabil. Der große Vorteil gegenüber dem manuellen Klicken von Messpunkten ist die enorme Zeitersparnis, da in kürzerer Zeit deutlich mehr Punkte messbar sind. Eine Herausforderung sind dagegen der aufwändige Aufbau und der personelle Aufwand. Denn das komplette System umfasst acht Kameras, ebenso viele Objektive und insgesamt gut 200 Meter Kabel. Es wird deshalb vor allem für die Erhebung von Daten für die Forschungsprojekte eingesetzt. So ist im neuen Olympiazyklus Paris 2024 der Einsatz des Simi-Systems beispielsweise im Projekt Lauf/Gehen zur Ermittlung von Parametern der Laufökonomie und im Projekt Bogenschießen für die Bewegungsanalyse in der Kopplung mit Muskelaktivität geplant.
Abgespecktes System für Routineeinsatz
Für den Routineeinsatz bei Leistungsdiagnostik und Wettkampf steht ein abgespecktes System mit zwei Kameras zur Verfügung. Hier muss der Anwender zwar manuell erfassen, aber die Bewegungsanalyse bietet deutlich mehr Parameter als in der einfachen kinematischen Analyse. Im Ergebnis erhalten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch mit dieser Variante des Simi-Systems bessere Daten in kürzerer Zeit.
Steven Pickardt und seine Kollegen vom Fachbereich Biomechanik/Sporttechnologie sind am IAT auch dafür verantwortlich, den Markt nach neuen Technologien zu sondieren, die für Aufgabenstellungen im Leistungssport genutzt werden können. Deshalb haben sie natürlich auch alternative Bewegungsanalysesysteme im Blick. Doch bis ein System hinsichtlich der hohen Anforderungen im Leistungssport an die Datenqualität und -genauigkeit evaluiert ist, bedarf es zeitlicher und personeller Ressourcen. „Simi Shape ist für zahlreiche unserer sportspezifischen Projekte gut geeignet, aber es gibt auch Aufgabenstellungen, für die andere Systeme besser passen.“
Spannende Projekte
Derzeit laufen am IAT in diesem Bereich drei Projekte parallel. So soll die Laufbanddiagnostik mithilfe einer Bewegungsanalyse moderner gestaltet werden. Bisher wurde bei dieser der Fokus vor allem auf die Physiologie gelegt. Nur zu gewissen Phasen wurde gefilmt, um mit den dabei erstellten Bildreihen Informationen über die Köperpositionen eines Sportlers zu bekommen. Jetzt ist es mithilfe des Simi-Motion-Shape-Systems möglich, die komplette Kinematik des Sportlers zu erfassen. Wie bewegt er sich, was sagen relevante Körperwinkel, die Oberkörpervorlage usw. Dazu werden 16 Kameras rund um die zwei Laufbänder am IAT aufgebaut. Hinzu kommen die Messwerte zu den Bodenreaktionskräften unterhalb des Laufteppichs, zusätzlich werden die klassischen physiologischen Parameter aufgenommen. In Summe hoffen die Wissenschaftler auf mehr Erkenntnisse. Ziel ist es, die Daten bereits während der Diagnostik im Hintergrund zu analysieren und unmittelbar danach sich die Auswertung auf einem großen Präsentationsmonitor anzuschauen. Verschiedenste Auswertemöglichkeiten sind dann möglich. Wie verhielt sich der Athlet zu Beginn und am Ende des Tests. Grafiken und Simulationen können erstellt und alle Daten sofort an Athleten*innen und Trainer*innen zur Verfügung gestellt werden.
Als zweites läuft eine Pilotstudie im Bogenschießen, bei der unterschiedliche Schusstechniken verglichen werden. Dabei erfolgt auch hier eine markerlose Bewegungsanalyse in Verbindung mit EMG-Sensorik zur Muskelaktivitätserkennung. Fragestellung hier, wie genau sich die Muskelaktivität auch in der erfassten Bewegungskinematik widerspiegelt.
Das dritte Projekt läuft zurzeit im Tischtennis. Ziel der Untersuchung ist es, verschiedene Bewegungsmuster während gespielter Topspin-Schläge zu erkennen und zu optimieren. Aufgenommen wurden dazu unterschiedliche Schlagroutinen von rund 20 Athleten*innen, die gegen einen Tischtennisroboter spielten. Neben dem Simi-Shape-System, kamen Druckmesssohlen der Fa. Moticon und das Balltracking System von Spin Sight zum Einsatz. Dabei sollten nicht optimale Bewegungsmuster visualisiert werden um anschließend Korrekturen der Bewegungsabläufe vornehmen zu können.